Johannes 4, 19-26


Warum sitzt die Prinzessin eigentlich am Brunnen? Und warum spielt sie mit ihrer goldenen Kugel gerade am Rand des Brunnens? Die muss doch irgendwann hinein fallen! Da sitzt das Mädchen am Brunnen, Kugel hoch in der Luft. Sie blickt hoch.
Das Krönchen blitzt in der Sonne. Und - zack - ist die goldene Kugel wieder in ihrer Hand. Nochmal die Kugel hoch geworfen. Die Prinzessin blinzelt in die Sonne.
Die beiden goldenen Bälle leuchten um die Wette. Und - zack - die Kugel liegt wieder sicher in ihrer Hand. Die Hand fängt die Kugel alleine. Sie muss gar nicht hingucken.
Hoch in die Luft - und immer direkt über dem Brunnen. Nicht auszudenken,
wenn die Kugel da hinein fällt. Wer soll sie wieder hoch holen?
Solche Brunnen sind tief.In manchen Ritterburgen gibt es Ziehbrunnen. die sind so tief, dass man den Boden nicht sehen kann. Manchmal kann man fünfzig Cent in einen Automaten werfen. Dann geht ein Scheinwerfer an, und ein sehr tiefes beleuchtes Loch tut sich auf. Der Grund ist immer noch nicht zu sehen. Oder wir lassen ein Steinchen hinein fallen. Lange Zeit: nichts. Dann ein kleines: "Plumps!".
Schauderlich tief der Brunnen. Aus Sicherheitsgründen ist kurz unterhalb des Brunnenrandes meist ein Metallgitter gespannt. Da passt keine goldene Kugel mehr durch. Und schon gar nicht ein Kleinkind. ...  Als der Prinzessin damals die goldene Kugel ins Loch fiel, kam ein ekelhaft glitschiges Wesen hervor. und versprach ihr, die Kugel wieder zu holen, wenn sie Tisch und Bett mit ihm teilte. In Kinderbüchern hat der Frosch meist ein kleines Krönchen. Der Froschkönig. Ein Frosch, der den Prinzen in ihm, doch nicht ganz verbergen kann. Aber es ist eben noch kein Prinz,
sondern etwas, womit die Prinzessin gespielt hat, was sie hervor locken wollte ...
Und doch erschrickt sie davor. Der tiefe Brunnen weiß es wohl, was sich eine Prinzessin so erträumt. Nennen wir es dezent: einen Prinzen.

2. EINE FRAU AM BRUNNEN
Auch unser Predigttext handelt von einer Frau am Brunnen. Es ist ein Brunnen, der weit draußen liegt. Über einen Kilometer ist die Frau gegangen. Die Brunnen Ain Askar und Ain Defne liegen viel näher. Einen Kilometer ist die Frau aus Sychar gegangen.
Bis nahe an die Abzweigung nach Westgaliläa. Der Berg Garizim war von dort aus zu sehen. Der Berg "Gott sieht", wo Abraham seinen Sohn Isaak nicht opferte, und wo Gott einen Bund mit ihm schloss. Auf dem Berg lag einst das Heiligtum der Samaritaner. ein Tempel, der an den Bund mit Gott erinnerte. Wenn die Frau in den Himmel blinzelte, konnte sie die Ruinen sehen. Es war Streit zwischen den beiden Bewohnern des Landes: dem Volk der Samaritaner und dem Volk der Juden.
Die einen, die Juden, sagten: In Jerusalem muss der Tempel stehen.
Dort will Gott angebetet werden. Die anderen, die Samaritaner, sagten: Dort, wo der erste Bund geschah, muss das Heiligtum stehen. Dort wo Abraham seinen Sohn nicht opfern musste. Seitdem darf kein Kind, kein Mensch mehr geopfert werden
und der Engel zeigte Abraham einen Widder, der dann geschlachtet wurde,
und sagte, er will Abrahams Samen zahlreich machen, wie den Sand am Meer,
wie die Sterne am Himmel, unübersehbar, unzählbar. [Gen 22, 17]
...
In Jerusalem wird noch geopfert, aber dort oben sind nur noch Ruinen. Die Frau kam gerne hierher. Der Brunnen war 30 Meter tief. Er hatte einen gemauerten Rand.
Sie mochte das Alleinsein und den Blick auf den Berg.

3. BEGEGNUNG AM MITTAG
Heute saß schon jemand da, als sie kam. Ein jüdischer Rabbi. Ihr Blick fiel auf die Troddeln an seinem Gewand. Der wird sie gar nicht sehen. - Unterhalb des Berges "Gott sieht" sitzt ein Mann, ein Priester, ein Wanderprediger. Und der wird sie nicht anschauen. Zwei Menschen am Brunnen. Und der eine tut, als sei der andere nicht da.
Gleich unterhalb des Berges "Gott sieht". Na fein, wenigstens einer, der sieht.
Es ist Mittag. Hitze. Warum ist sie eigentlich am Mittag hier heraus gegangen?
Alle vernünftigen Frauen gehen in der Morgenkühle oder am Abend. Jetzt gleißt das Licht. Und der Mann im weißen Gewand kommt ihr vor wie ein Engel. Aber einer, der nicht sieht. Geschäftig lässt sie den Krug in den Brunnen herab. Die Winde quietscht leise. Den Moment des Friedens am Brunnen kann sie heute vergessen. Eilig hebt sie den Krug auf den Brunnenrand. "Gib mir zu trinken!", sagt der Mann.
Sie lacht in sich hinein. Ein jüdischer Mann, ein Geistlicher, und eine samariatanische Frau. Und er spricht sie an, bittet sie sogar. Sie sieht ihn an. Er lächelt. "Gott sieht", fällt ihr ein. "Wenn du wüsstest, wer ich bin - dann hättest du mich gebeten, dir Wasser zu geben!" Sie setzt sich zu ihm an den Rand. "Wo ist denn dein Schöpfgefäß?", fragt sie. Der Krug steht zwischen den beiden, und das Wasser schwappt leise über den Rand. "Fünf Männer hast du gehabt", sagt er plötzlich etwas abrupt,
"und den du jetzt hast, der ist nicht auch nicht dein Mann."

4. DER PREDIGTTEXT
So weit habe ich Ihnen die Gechichte erzählt. Und jetzt kommt unser Predigttext,
wörtlich aus dem Johannesevangelium, Kapitel vier:

Die Frau sagt zu ihm: Herr, ich sehe, dass du ein Prophet bist. Unsere Väter haben auf diesem Berge angebetet, und ihr sagt, in Jerusalem sei der Ort, wo man anbeten muss. Jesus sagt zu ihr: Weib, glaube mir, die Stunde kommt, wo ihr weder auf diesem Berge noch in Jerusalem den Vater anbeten werdet. Ihr betet an, was ihr nicht kennt; wir beten an, was wir kennen; denn das Heil kommt von den Juden.
aber die Stunde kommt und ist jetzt da, wo die wahren Anbeter den Vater
in Geist und Wahrheit anbeten werden; denn so will der Vater seine Anbeter haben.
Gott ist Geist und die ihn anbeten, müssen ihn in Geist und Wahrheit anbeten.
Die Frau sagt zu ihm: Ich weiss, dass der Messias kommt, der der Christus genannt wird; wenn dieser kommt, wird er uns alles kundmachen. Jesus aber sagt zu ihr:
Ich bin's, der ich mit dir rede.

5. GOTT SIEHT UND SPRICHT IM HIER UND JETZT
Ich bin's, der ich mit dir rede. Da ist Gott plötzlich ganz nah. Die Frau sieht gerne auf den Berg. In der Ferne liegt der Berg. Auf dem Berg ist der Ort, der "Gott sieht" heißt...
Jerusalem oder Gerazim. Wo ist der richtige Ort? Das ist die Frage, für die sich die Frau jetzt plötzlich interessiert. Eine sehr allgemeine Frage. Wo ist der richtige Ort für Gott? Wo bin ich ihm nahe? Wo müssen wir ihn anbeten? Sie sagt zu Jesus:
Herr, ich sehe, dass du ein Prophet bist. Unsere Väter haben auf diesem Berge angebetet, und ihr sagt, in Jerusalem sei der Ort, wo man anbeten muss.  Jesus entscheidet die Frage nicht. Er sagt "Weder noch"!: Weib, glaube mir, die Stunde kommt, wo ihr weder auf diesem Berge noch in Jerusalem den Vater anbeten werdet.
"Gott ist hier", sagt Jesus. "Wo wir beide sprechen. Gott sieht mit meinen Augen."
- "Ja, wenn der Messias kommt", weicht sie noch einmal aus. Ein letzter Versuch, das Geschehen in die Ferne zu verlegen. Nicht in die räumliche Ferne - auf den Berg, nach Jerusalem. Aber in die zeitliche Ferne - in die Zukunft. Aber Jesus sitzt ihr gegenüber.
"Ich bin's, der ich mit dir rede." "Im Geist anbeten", nennt es Jesus. Was heißt das?
Geist heißt: Gott ist hier. Der heilige Geist ist ein anderes Wort für die Gegenwart Gottes. Wo der Geist ist, ist Gott selbst. Er sieht und hört.
...
Gott ist jetzt. Gott ist hier. Jesus sitzt uns gegenüber. Er sagt: "Ich bin's, der ich mit dir rede. Gott sieht." Wir können aufhören zu denken: Er wird mich nicht ansprechen.
Wir können aufhören zu denken: Er wird mich nicht beachten.
Wir können aufhören zu denken: Gott ist in der Ferne.
Gott sieht. Und wir blicken zurück. Nicht in die Ferne, sondern in ein Gesicht!
Amen.

Und der Friede Gottes, der höher ist, als all unsere Vernunft,
bewahre euere Herzen und Sinne in Christus Jesus.
Amen