Hebräer 9, 15, 26b-28
Christus
ist der Mittler des neuen Bundes, damit durch seinen Tod, der
geschehen ist zur Erlösung von den Übertretungen unter dem
ersten Bund, die Berufenen das verheißene ewige Erbe empfangen.
Nun
aber, am Ende der Welt, ist er ein für allemal erschienen, durch
sein eigenes Opfer die Sünde aufzuheben. Und wie den Menschen
bestimmt ist, einmal zu sterben, danach aber das Gericht: so ist
auch Christus einmal geopfert worden, die Sünden vieler
wegzunehmen; zum zweiten Mal wird er nicht der Sünde wegen
erscheinen, sondern denen, die auf ihn warten, zum Heil.
Dass Christus für unsere Sünde
gestorben ist, könne man heute keinem Menschen mehr zumuten,
sagt man. Die Gegner dieses Opfertod-Denkens haben starke
Argumente: Erstens habe Christus vor 2000 Jahren gelebt. Er
konnte nicht wissen, dass es einmal ein 21. Jahrhundert und 7
Milliarden Menschen geben würde. Er kannte mich nicht, weder
mein Leben und meine
Stärken noch meine geheimen Wünsche,
meine Fehler und meine Schuld. Wie sollte er da für meine Schuld
gestorben sein? Zweitens sei die Vorstellung grauenhaft, dass ein
Mensch geopfert
werden müsse, um Gott gnädig zu stimmen.
Menschenopfer waren zurzeit Jesu schon lange nicht mehr üblich.
Was ist das für ein Gott, der nicht vergeben kann, ohne dass
Blut fließt?
Drittens, so sagen sie, verstößt diese
grausame Gottesvorstellung gegen die Predigt und das Leben Jesu:
Jesus habe die Liebe Gottes gepredigt, eine Liebe, die selbst der
zwielichtigen Maria Magdalena gilt, eine Liebe, die Jesus den
Zöllnern und den Kranken, den Behinderten
und Besessenen zugesprochen und vorgelebt
hat. Zachäus, der Zöllner und Betrüger, ist nicht durch ein
Opfer von seiner Habgier befreit worden, sondern durch die
Zuwendung und Liebe Jesu die Liebe hat ihn so verändert.
Viertens, so sagen sie, sind die meisten unserer Sünden gar
nicht
so schlimm, dass sie den Tod verdient
hätten. Musste Jesus sterben, weil ich geflucht habe oder
fremdgegangen bin? Das sei unverhältnismäßig. Schuld und
Strafe passen nicht zusammen.
Starke Argumente haben die Gegner des
Opfertod-Gedankens; wer wollte das bestreiten? Trotzdem bin ich
der Überzeugung, dass Christus sein Leben gab für uns!
Ich möchte diesen Gedanken, dass Jesus für uns gestorben ist,
entfalten. Heute an seinem Todestag. Im Predigttext
heißt es: Jesus ist erschienen, um durch
sein Opfer die Sünde aufzuheben. Das möchte ich verständlich
machen. Vielleicht können Sie am Ende dieses Gottesdienstes auch
sagen: Danke, Jesus, für Dein Leiden und für dein Sterben.
Danke für Deine große Liebe.
II.
Zuerst will ich erklären, was Sünde ist:
Sünde ist nicht die eine oder andere Untat. Bei dem Wort Sünde
denken die einen an verbotenen Sex und die anderen an Sahnetorte
und Eis, weil das lecker schmeckt, aber dick macht. »Da wollen
wir heute mal wieder sündigen«, sagen sie und lassen sich die
Sahne schmecken. Aber Sünde ist nicht die verbotene Tat. Das
Wort Sünde kommt von Sund. Das Wort Sund ist enthalten in den
Worten Fehmarnsund, Øresund, Ulfsund, Grönsund.
Das Wort lässt sich vom altnordischen
Verb sundr herleiten. Es bedeutet »trennen« oder »aufteilen«.
Ein Sund ist eine Landtrennung, der Abstand oder die Trennung
eines Landes vom anderen. Genau diese Bedeutung hat das Wort
Sünde in der Bibel. Es meint unser Getrenntsein
voneinander und von Gott. Diese Trennung
von Gott und zwischen uns Menschen ist furchtbar, sie bringt viel
Leid. Jesus will helfen, sie zu überwinden. Natürlich kommt
diese Trennung durch
böse Worte oder durch niederträchtige
Taten, diese Trennung kommt daher, dass wir einander hintergehen
oder schlecht machen oder ausnutzen oder missachten oder
verletzen.
Es gibt Trennungen zwischen einzelnen
Menschen, aber auch zwischen ganzen Völkern. Zu Jesu Zeiten
waren es Juden, Römer und Samarier, die einander Feind waren.
Wie viel Kraft hat Jesus investiert, um Vertrauen zu stiften!
Heute sind es andere Rassen und Völker, die
einander misstrauen, Sie wissen selbst,
zwischen welchen Ländern Feindschaft oder Misstrauen herrscht.
Solchen Abstand gibt es auch zu Gott: Eigentlich sollte das
Verhältnis zu Gott voller Dankbarkeit sein und voller Liebe.
Seht, welches Vertrauen Jesus zu seinem Vater hatte: »Abba, mein
lieber Vater!«, so spricht Jesus im Gebet zu Gott, voller
Vertrauen. Diese Dankbarkeit und dieses Vertrauen, dass Gott es
gut mit uns meint, ist bei vielen Menschen zerbrochen. Teils,
weil sie Schlimmes erlebt haben, teils, weil sie sich abgewendet
haben, teils, weil sie es niemals suchten. Jesus will das heilen,
Jesus will unser Getrenntsein überwinden und wirbt um Vertrauen
zu Gott. Natürlich sind die Trennung und Abgründe zwischen uns
auch durch Bosheit oder Egoismus oder Habgier oder Lüge
entstanden, natürlich ist bei unserem Unheil und Getrenntsein
viel Schuld im Spiel. Aber Jesus sagt niemals zu einem Menschen:
»Du bist ein großer Sünder!«, sondern immer nur: »Kommt zu
mir, die ihr mühselig und beladen seid!« Ich weiß doch selbst,
dass ich nicht so bin wie ich sein sollte, das muss mir niemand
sagen.
III.
Soweit zum Begriff Sünde. Wenn Jesus nun
sein Leben einsetzt, damit dieser Abstand, dieser Graben, dieses
Leid überwunden wird, dann tut Jesus das nicht, weil Gott es
nötig gehabt hätte, dass sich ein Mensch opfert! Es ist doch
nicht Gott, der die Versöhnung braucht, sondern
wir Menschen brauchen sie. Wir leiden
unter der Zerrissenheit in unseren Familien, wir leiden unter dem
Streit mit den Nachbarn, wir leiden unter Hass und der
Habgier, und wir leiden auch darunter, dass wir keinen Frieden
finden mit Gott. Deshalb ist es nötig, dass ein
Mensch sein Leben einsetzt, sich selber
einsetzt, seine Liebe gibt, damit es besser wird bei uns.
Jeder kennt Menschen, die sich für
andere einsetzen, Gott sei Dank! Da ist einen Mann, der hat für
seinen Sohn eine Niere gespendet: Er ist mit ihm ins Krankenhaus
gegangen und hat das Risiko der Operation auf sich genommen, um
seinen Sohn frei zu machen von der Dialyse und ihren Belastungen.
Er hat sich nicht selbst geopfert, aber seine Niere, das ist viel.
Jeder weiß, wie sich eine Mutter am Bett
ihres kranken Kindes verhält: Sie wacht, sie kühlt die
fieberheiße Stirn, sie singt oder spricht beruhigende Worte, sie
opfert ihrem kranken Kind die Nacht. Da ist die Nichte, die ihre
schrullige Tante jeden Tag auf dem Heimweg von der Arbeit besucht.
Da ist der Mann, der zu seiner Frau hält, der für sie da ist,
sie versorgt und pflegt, obwohl ihre Alzheimer-Demenz so weit
fortgeschritten ist, dass kein Gespräch mehr geht und sie ihn
kaum mehr erkennt. Würde man den Sohn
später fragen, er würde antworten: Mein Vater hat mir aus Liebe
mein Leben zurückgegeben. Das Kind würde später sagen: Meine
Mutter hat mich mit ihrer Liebe durch die Fiebernächte getragen.
Die Tante, die Ehefrau, wenn sie könnten, würden
sie sagen: In Liebe haben sie mich und
meine Krankheit getragen. Ein Mensch der liebt, würde für den,
den er liebt, sein Leben einsetzen, nicht wahr? Welcher Vater
würde nicht sein Kind von der
Straße reißen, selbst wenn er sich
selbst in Lebensgefahr begibt! In solcher Weise hat Jesus sein
Leben für seine Mitmenschen eingesetzt. Er sah in ihnen nicht
den Fremden, den Kranken oder den Ganoven. Er sah in jedem
Menschen, der ihm begegnete, das Kind Gottes. Und wenn der Hilfe
brauchte, hat er sich für ihn eingesetzt. Rückblickend haben
diese Menschen über Jesus gesagt. »Fürwahr, er trug unsere
Krankheit!«
IV.
Da ist noch mehr; ein Beispiel soll es
deutlich machen: Vier Monate vor seinem Tod war Enzo Sigismondi
schwer vom Krebs gezeichnet und geschwächt. Aber bis zuletzt war
er ganz klar bei Verstand, erstaunlich positiv und dankbar. Er
bat in dieser Zeit um ein Kruzifixus, um ein
Kreuz mit Christusfigur daran. Er bekam
ein großes Kreuz mit einer hölzernen Christusfigur. Enzo hat es
angefasst, das Holz und auch die Figur. Seine Hände haben den
Leib gespürt, sind an ihm entlang geglitten. »Wenn ich einmal
soll scheiden, so scheide nicht von mir!«, heißt es in einem
alten Passionslied. Enzo wollte sich vergewissern, um in den
Augenblicken der Angst und Verzweiflung darauf vertrauen zu
können, dass Jesus diesen schmerzhaften Weg ebenfalls gehen
musste: »Wenn ich einmal soll scheiden, so scheide nicht von mir!
du kennst den Schmerz und die Angst und die Verzweiflung.
Lass mich nicht allein!« Nicht allein sein in der Not das
ist viel wert. Enzo war nicht allein. Seine Liebste war ihm nah,
auch seine Kinder. Aber Sterben ist eine andere Dimension, denn
auch das Liebste lässt man zurück.
V.
Ist Jesus Christus für uns gestorben? In
der Bibel stehen diese Sätze: »Er trug unsere Krankheit und lud
auf sich unsere Schmerzen« (Jes 53). »Er ist für uns
gestorben« (1 Kor 15). Matthäus sieht Menschen, die in ihrer
Not zu Jesus kommen und kommentiert: »Er hat ihre
Krankheit getragen«. Jesus hat sein
Leben für seine Mitmenschen eingesetzt. Er sah in ihnen
nicht den Feind, vor dem man Angst haben
müsste, sondern er sah in jedem Menschen das Kind Gottes.
Vielleicht entstellt, vielleicht hart geworden durch schreckliche
Erfahrungen, vielleicht verdorben durch falsche Befriedigung oder
Sucht, aber trotz allem tief innen immer noch das
Kind Gottes, für das sein Leben
einzusetzen sich lohnt. »Fürwahr, er trug unsere Krankheit!«
haben diese Menschen zu Recht gesagt. Als die Pharisäer ihn aus
Neid anklagten und behaupteten, er habe sich zu Gottes Sohn
gemacht, als er Gottes Liebe so leidenschaftlich und
kompromisslos weiter gab, da wusste Jesus: Wenn er jetzt
weglaufen würde, wäre alles umsonst gewesen: Niemand würde ihm
mehr glauben: Der Zöllner Zachäus nicht, Maria Magdalena nicht,
all die,
denen er half und denen er sagte, Gott
sei die Liebe und wir sollten unseren Nächsten lieben wie uns
selbst niemand würde ihm mehr glauben; auch Pilatus nicht
und der römische Hauptmann, der staunend sprach: »Wahrlich,
dieser Mensch ist Gottes Sohn gewesen!« Jesu Sterben war die
letzte Konsequenz seiner Liebe. Er musste den Weg zu Ende gehen.
Wer will, kann jetzt noch einen Schritt weitergehen und ganz
persönlich antworten: »Danke, Jesus, dass du auch mich
erträgst und trägst, mit meinen Schrulligkeiten, mit meinen
Stärken, mit meinen Fehlern, mit meiner Angst. Danke, dass du
uns bis in den Tod treu geblieben bist. Danke dass es jetzt
keinen Ort mehr gibt ohne dich.« Man muss das nicht so sehen.
Aber ich kenne viele, die dies so
glauben und denen das gut tut.
Amen.