Predigt zu Lukas 6:36-42

Alt einkaufen

Nur eine der vier Kassen ist geöffnet. Die Kunden müssen warten. Warum geht es da vorne nicht weiter? Eine Frau kramt in ihrem Portemonnaie. Nimmt eine Münze heraus, legt sie wieder zurück, sucht eine andere Münze, legt sie vor den Kassierer. Das dauert. Während der Kassierer geduldig bleibt und der Kundin sagt, wie viel Geld noch fehlt, wird die Stimmung in der Schlange zunehmend gereizter. „Geht’s mal voran!“, „Das darf doch nicht wahr sein!“ Leute machen ihrer Ungeduld Luft. Schneller voran geht es dadurch nicht. Der Frau fällt ein Geldstück herunter.

Dann steht Melvin an der Kasse. Er sieht aus wie ein Astronaut auf einem Weltraumspaziergang. Melvin ist 14 Jahre alt und wollte wissen, wie es sich anfühlt, alt zu sein. Eine Frage für die Sendung mit der Maus. Die Redaktion ist mit ihm zu einem Gerontologen gegangen. Der Arzt hat Melvin in diesen Anzug gesteckt und zum Einkaufen geschickt. Die Bewegungen darin sind schwerfälliger. Mehr Gewicht, weniger Muskeln – das wird simuliert. Melvins Finger stecken in Handschuhen. Denn das Gefühl in den Fingerspitzen nimmt im Altar ab. Auch die Sicht. Melvin trägt eine Spezialbrille, die sein Sichtfeld einschränkt. Das Kleingedruckte kann er nicht mehr lesen. Jetzt kramt Melvin im Portemonnaie nach den richtigen Münzen. Kann sie nicht so greifen, wie er es gerne möchte. Ihn stresst, dass die Leute hinter ihm warten müssen.

Nach dem Einkauf im Altersanzug ist Melvin erschöpft. Er hat gemerkt, wie anstrengend so etwas Alltägliches ist, wenn man mit Einschränkungen zurechtkommen muss. Sein Fazit: Nie mehr ärgere ich mich, wenn ich an der Kasse warten muss, weil jemand beim Bezahlen länger braucht.

Sich in einen anderen Menschen hineinversetzen. Eine schwierige Übung. Vor allem, wenn mich mehr von ihm unterscheidet, als ich es mir vorstellen kann. Melvin ist es gelungen und er hat eine wertvolle Einsicht gewonnen. [WDR, Sendung mit der Maus, 9.6.2019]

Wie schwierig das ist, leuchtet in einer Rede auf, die Jesus an seine Jünger richtet und die auch viele von denen hören, die zu ihm gekommen sind. Jesus gibt seinen Leuten Verhaltensregeln mit auf den Weg: So steht bei Lukas im 6. Kapitel:

 Jesus sprach:

36 Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist.37 Und richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet. Verdammt nicht, so werdet ihr nicht verdammt. Vergebt, so wird euch vergeben. 38 Gebt, so wird euch gegeben. Ein volles, gedrücktes, gerütteltes und überfließendes Maß wird man in euren Schoß geben; denn eben mit dem Maß, mit dem ihr messt, wird man euch zumessen.39 Er sagte ihnen aber auch ein Gleichnis: Kann denn ein Blinder einem Blinden den Weg weisen? Werden sie nicht alle beide in die Grube fallen? 40 Ein Jünger steht nicht über dem Meister; wer aber alles gelernt hat, der ist wie sein Meister.41 Was siehst du den Splitter in deines Bruders Auge, aber den Balken im eigenen Auge nimmst du nicht wahr? 42 Wie kannst du sagen zu deinem Bruder: Halt still, Bruder, ich will dir den Splitter aus deinem Auge ziehen, und du siehst selbst nicht den Balken in deinem Auge? Du Heuchler, zieh zuerst den Balken aus deinem Auge, danach kannst du sehen und den Splitter aus deines Bruders Auge ziehen.

 Von Gott könnt ihr euch eine Scheibe abschneiden. Macht es wie Gott, seid barmherzig. Pocht nicht darauf, dass ihr Recht habt. Richtet nicht über andere. Gebt ihnen Raum, dass sie sich verändern können. Vergebt ihnen. Seid großzügig und lasst euch anrühren.

Wie schwer ist das denn? Wie widersprüchlich.

Worauf es Jesus dabei ankommt, wird am Schluss deutlich. Menschen neigen dazu, Fehler bei ihren Mitmenschen genau wahrzunehmen und die eigenen auszublenden. Ihr Sehvermögen ist begrenzt, nicht weil sie weit- oder kurzsichtig, sondern weil sie engherzig sind.

Widersprüche, Inkonsequenz, Irrtümer – all das sticht ihnen bei ihren Mitmenschen ins Auge. Aber nicht bei ihnen selbst. Jesus meint, wir sind Splitterspezialisten und zugleich balkenblind. Eine chronische Sehschwäche des Herzens.

 41 Was siehst du den Splitter in deines Bruders Auge, aber den Balken im eigenen Auge nimmst du nicht wahr? 42 Wie kannst du sagen zu deinem Bruder: Halt still, Bruder, ich will dir den Splitter aus deinem Auge ziehen, und du siehst selbst nicht den Balken in deinem Auge? Du Heuchler, zieh zuerst den Balken aus deinem Auge, danach kannst du sehen und den Splitter aus deines Bruders Auge ziehen.

Splitterspezialisten und zugleich balkenblind. Spezialisiert auf die Splitter in den Augen anderer und blind für den Balken im eigenen Auge. Fünf Tage vor den Europawahlen Ende Mai veröffentlicht Rezo ein Video auf Youtube. Nichts Besonderes. Das hat er schon öfter gemacht. Aber anstatt über den Sinn und Unsinn von Schule zu singen, begründet er, warum er die CDU, die SPD und andere Parteien nicht wählen wird. Fast eine Stunde lang. Was er zusammenstellt, ist schon anderen vor ihm aufgefallen. Die Schere zwischen Armen und Reichen in Deutschland geht auseinander. Von deutschem Boden aus töten die USA mit Drohnen völkerrechtswidrig Menschen, ohne dass dagegen Widerspruch laut wird. Furore macht Rezos Kritik an der Klimapolitik der Bundesregierung, die die in internationalen Abkommen beschlossenen Ziele als unerreichbar zu den Akten gelegt hat.

15 Millionen Mal wird dieses Video in kurzer Zeit aufgerufen. Längst nicht allen gefällt, was sie hören und sehen. Rezo bekommt geballte Wut zu spüren, wird beschimpft und verunglimpft. Eine Parteivorsitzende denkt in einer Pressekonferenz über Kontrolle des Internets nach. Gehört so etwas verboten? Ein Ressortchef einer überregionalen Tageszeitung teilt ein Video, in dem behauptet wird, Rezo verbreite nicht seine eigene Meinung, sondern sei gekauft. Fake news, wie sich schnell heraustellen wird. Parteivorsitzende und Zeitungsredakteure tun, was sie können. Splitterspezialisten am Werk. Balkenblind wie sie sind.

Aber wer kann sich das leisten? Öffentlich Selbstkritik zu üben. Stellen Sie sich das vor: Ein Parteivorsitzender gesteht gravierende Fehler ein, den er selbst bzw. seine Partei gemacht hat. Eine Bundeskanzlerin gibt zu, geirrt oder Wahrheit verschwiegen zu haben. Das wäre politischer Suizid. Das verzeiht keiner. Am wenigsten die eigenen Leute. Noch weniger die Wählerinnen und Wähler. Bei nächster Gelegenheit wählen sie die, die sich damit brüsten, alles richtig zu machen. Einfache Lösungen haben Konjunktur. Am liebsten solche, bei denen die Probleme grundsätzlich von anderen verursacht werden.

 Jesus fordert von seinen Leuten, was nirgendwo ausgeprägt ist: Fähigkeit zur Selbstkritik. Statt auf die Splitter im Auge des Bruders, der Schwester zu starren, sollten sie sich um den Balken im eigenen Auge kümmern. Selbstkritik ist kein Versagen, sondern eine Kunst.

Was Jesus hier fordert, birgt für Glaubende eine große Verunsicherung mit sich. Sehen sie sich doch gerade durch ihren Glauben mit absoluter Wahrheit verbunden. Immer geht es ums Ganze. Ein bisschen Himmelreich gibt es nicht. Oder ein Stück weit? Das wäre wie gewollt und nicht gekonnt. Also ganz oder gar nicht? Himmel oder Hölle? Schon in der Bibel beginnt das Sortieren. Auf der einen Seite die, die dazu gehören, auf der anderen jene, die verloren sind. Auf der einen Seite große Freude, auf der anderen Heulen und Zähneklappern. Zur Hölle mit denen, die nicht genug, die anders oder überhaupt nicht glauben. Glaube wird zu einem Geschäft mit der Angst. Als Macht dazu kommt, klebt Christen Blut an den Händen. Sie vertreiben Juden aus ihren Ländern oder ermorden sie an Ort und Stelle. Mission wird gewalttätig. Oder Expansion mit der Verbreitung des Glaubens begründet. Absolute Wahrheit und Gewalt ziehen sich an wie zwei Magnete. Eine Gefahr für alle Religionen.

Erstaunlich, dass Jesus für Selbstkritik plädiert und den Balken im eigenen Auge zur Chefsache macht. Eine Herausforderung für Splitterspezialisten, die zugleich so balkenblind sind. Wie soll das gehen? Was öffnet einem die Augen und schärft den Blick für diese Innensicht?

36 Seid barmherzig, wie auch euer Vater barmherzig ist. 37 Und richtet nicht, so werdet ihr auch nicht gerichtet. Verdammt nicht, so werdet ihr nicht verdammt. Vergebt, so wird euch vergeben. 38 Gebt, so wird euch gegeben. Ein volles, gedrücktes, gerütteltes und überfließendes Maß wird man in euren Schoß geben; denn eben mit dem Maß, mit dem ihr messt, wird man euch zumessen.

 

Im Blick auf Gott heißt das: Gott ist anders, als ich mir vorstelle. Die Rechnung von Himmel und Hölle geht vielleicht ganz anders oder gar nicht auf. Gott gibt die Richtung vor: Barmherzig sein, vergeben, geben. Von Grenzen ist hier nicht die Rede, eher von Übermaß. Wie das nur gehen soll? Ich bin da fröhlich ratlos.

 

Im Blick auf andere Menschen: Jeder Jeck ist anders, heißt es im Rheinland. Zurecht. Den anderen anders sein lassen. Das ist viel wert. Manchmal gelingt es, Anteil zu nehmen an der anderen Welt, die einem in der Nachbarschaft begegnet, in der Kasse am Supermarkt. So wie Melvin, der sich in einen Altersanzug hat stecken lassen und eine wichtige Einsicht gewinnt: So schwierig kann es sein, dass Geld an der Kasse zusammenzusuchen. Das hat er sich so nicht vorgestellt.

„Wie fühlt sich das an, alt zu sein?“ Es ist gut, sich solche Fragen zu stellen und sich auf die Suche nach Antworten zu machen. Und aus Splitterspezialisten werden Balkenprofis. Weil es gut werden muss. Und wird.

Amen.