I.

Szene 1: Irgendwo ganz weit weg oder doch hier in unserer Nachbar- schaft? Er zieht den Reißverschluss seines Schlafsacks bis oben hin zu. Langsam kriecht die Kälte des harten Bodens durch die Pappe und den Schlafsack hindurch. An Schlaf ist nicht zu denken, viel zu viele Leute sind heute noch unterwegs, johlen, kreischen und brüllen in die dunkle Nacht. Wie jeden Abend seit einigen Jahren hat er sich eine Nische, einen Hauseingang gesucht, um ein wenig Schutz vor der Kälte zu finden. Er beobachtet die Leute, die geschäftig an ihm vor- beieilen, mit prallgefüllten Tüten nach Hause in das Warme wollen und ihn keines Blickes würdigen. Er ist unsichtbar, seitdem er nicht mehr dazugehört, nicht mehr kauft und besitzt, nicht mehr in einem festen Haus wohnt.

II.

Szene 2: Bei uns zuhause oder doch irgendwo weit weg? Sie gießt sich noch einen Schluck Rotwein ein und lässt ihren Blick durch das Esszimmer schweifen, begutachtet die Überbleibsel ihres Heiligen Abends. Der Weihnachtsbaum ist auch in diesem Jahr wieder in den Trendfarben geschmückt, das Geschirr vom Essen muss noch abge- räumt werden, und überall liegen noch Fetzen vom Geschenkpapier herum. Über sich hört sie die Kinder streiten, Türen schlagen und sich gegenseitig Gemeinheiten an den Kopf werfen. Sie schließt die Augen, versucht die aufkommenden Tränen wegzublinzeln, versucht zu ver- gessen, dass ihr Mann fluchend vom Tisch aufgestanden ist und ver- sucht zu verdrängen, wie viele Probleme dieses Familienfest doch jedes Jahr wieder mit sich bringt.

 

III.

Szene 3: In Jerusalem zur Zeit des Propheten Jesaja. Alles liegt in Trümmern. Staub und Schutt bedecken den Boden. Alles ist verwüs- tet, und vom früheren Glanz und der Pracht der großen Stadt ist nichts mehr zu sehen. Die gegnerischen Krieger haben alles dem Erdboden gleichgemacht. Jonathan streift ziellos durch die Straßen von Jerusa- lem, sieht die Zerstörung, hört das Klagen und Heulen der Menschen. Nur wenige Bewohner sind zurückgeblieben, die Mehrheit wurde de- portiert oder getötet. Je mehr er sich umsieht, desto größer werden seine Verzweiflung und seine Mutlosigkeit, desto mehr schwindet seine Hoffnung. Doch dann hört er etwas, blickt auf und kann seinen Augen und Ohren kaum glauben:

(Lesung des Predigttextes: Jes 52,7-10)

 

7 Wie lieblich sind auf den Bergen die Füße des Freudenboten, der da Frieden verkündigt, Gutes predigt, Heil verkündigt, der da sagt zu Zion: Dein Gott ist König!

8 Deine Wächter rufen mit lauter Stimme und jubeln miteinander; denn sie werden's mit ihren Augen sehen, wenn der HERR nach Zion zurückkehrt.

9 Seid fröhlich und jubelt miteinander, ihr Trümmer Jerusalems; denn der HERR hat sein Volk getröstet und Jerusalem erlöst.

10 Der HERR hat offenbart seinen heiligen Arm vor den Augen aller Völker, dass aller Welt Enden sehen das Heil unsres Gottes.

 

 

IV.

Weihnachten ist die Zeit großer Erwartungen. Es sind Erwartungen, die oft weit über materielle Wünsche hinausgehen. Wir wünschen uns Glück oder zumindest Zufriedenheit. Wir wünschen uns Gesundheit und Sicherheit. Wir wünschen uns Liebe und Geborgenheit. Wir wünschen uns Frieden – für die große Welt im Ganzen, aber auch für unsere kleine, ganz eigene Welt. Der Prophet Jesaja kündigt alles das an, kündigt eine neue Zeit an, in der Frieden, Gutes und Heil über alle Menschen kommen werden. Eine Botschaft, die wir gern hören, die wir vor allem zu Weihnachten gern hören, die wir auch in Liedern besingen und hier und da sogar bejubeln. Eine Botschaft, die – so scheint es immer noch viele Menschen anspricht und Sehnsüchte weckt, die oft über das Jahr in uns schlummern.

Aber es gibt einen Haken: Mit der Geburt Jesu ist der Weltfrieden noch lange nicht eingetreten. Nur weil Weihnachten ist, lösen sich un- sere Sehnsüchte, unsere Ängste und Sorgen nicht in Luft auf, und auch die Menschen in Krisen- und Kriegsgebieten leiden noch immer und kämpfen um das Überleben. Wie kann da Jubel ausbrechen? Wie kann da wirkliche Freude sein, nur weil irgendwer Frieden, Heil und Gutes verspricht? Wie können wir uns sicher sein, dass wirklich alles gut wird? Aber es ist eben nicht irgendwer, der alles das verkündet, wonach wir Menschen uns sehnen zu allen Zeiten und an allen Orten und

was wir uns so dringend wünschen. Es ist Gott selbst, der uns das alles verkünden lässt. Mit der Geburt seines Sohnes herrscht zwar nicht plötzlich überall Frieden, aber Gottes Heil leuchtet in unserer unheilen Welt auf. Wenn wir uns davon berühren lassen können, wenn wir offen sind für Gottes Handeln in der Welt, aber auch in unserem Leben, dann kann sich schon jetzt etwas verändern. Weil wir uns verändern. Wir können neuen Mut und neue Kraft schöpfen, um ei- nerseits das Unabänderliche ertragen zu lernen und andererseits da zuzupacken, einzugreifen und zu widersprechen, wo es nötig ist, da- mit unsere Welt zu einem besseren Ort wird.

V.

Weihnachten ist die Zeit großer Erwartungen. Aber nicht alle Erwar- tungen werden erfüllt. Weihnachten gibt nicht auf alle Fragen eine Antwort, auch wenn wir uns das noch so sehr wünschen. Und auch an Weihnachten lässt sich nicht darüber hinwegtäuschen, dass Freude und Trauer, dass Glück und Unglück, dass Liebe und Gleichgültigkeit dicht beieinander sein können. Denn auch der Frieden im Stall in Bethlehem währt nicht lang. Schon bald hören wir davon, dass Maria und Josef das neugeborene Kind in Sicherheit bringen müssen, dass sie fliehen müssen, um ihren Sohn vor den Soldaten des Königs Hero- des zu schützen, die viele neugeborene Jungen grausam umbringen werden. Und auch in unserem Leben gibt es viel Schweres und Leid- volles, das selbst zu Weihnachten nicht einfach schön oder klein geredet werden darf. Aber es kommt darauf an, wie wir allem dem begegnen: Ob wir uns einschüchtern lassen oder ob wir aufhorchen, wenn uns – wie beim Propheten Jesaja – Frieden, Gutes und Heil angekündigt werden. Ja, Weihnachten ist die Zeit großer Erwartungen, aber wir sind auch eingeladen, unseren Teil dazu beizutragen, dass sich diese Erwartungen erfüllen. Gott breitet seine Arme für uns aus, ruft uns zu, wie es eines Tages sein wird, was er sich für uns und die ganze Schöpfung wünscht. Alles, was jetzt in Trümmern liegt, soll dann wieder geheilt sein. Alles, was jetzt verlassen ist, soll dann Gu- tes und Frieden erfahren. So wie Gott einst verkünden ließ, Jerusalem und sein Volk wieder aufleben zu lassen, so kommt Gott nun zu Weihnachten in unsere Welt, kommt uns in diesem Kind unfassbar nahe und wartet womöglich auch schon lange darauf, dass wir ihm antworten, uns ihm zuwenden und unsere Kraft einsetzen, um etwas zu verändern da wo wir es können. Und vielleicht erleben wir dann auch das ein oder andere Weihnachtswunder, wenn wir über uns oder unsere Mitmenschen über sich in bestimmten Situationen hinaus- wachsen.

VI.

Weihnachten ist die Zeit großer Erwartungen. Nicht alle Erwartungen werden erfüllt, doch Weihnachten fördert und weckt immer wieder auf das Neue eine bestimmte Grundhaltung zum Leben: Es ist die Hoffnung auf Rettung und Heilung, auch wenn alle Anzeichen dage- gensprechen. Es ist die Hoffnung auf Liebe und Frieden für die ganze Welt, auch wenn das unmöglich scheint. Und es bleibt die Hoffnung und der Glaube daran, dass Gott Mensch geworden und mit uns un- terwegs ist. Gott schwebt nicht irgendwo über uns in unendlicher Distanz, sondern kommt ganz nahe an uns heran und erlebt, was wir erleben. Denn aus dem Kind in der Krippe wird ein Mann, der sein ganzes Leben selbstlos den Menschen widmet. Jesus geht zu denen, zu denen keiner gehen will. Er ist da, wo niemand sein möchte und setzt sich auch der Lieblosigkeit dieser Welt aus im Leben, im Leiden und im Sterben.

Und das bedeutet wiederum, dass Jesus genau weiß, was wir erle- ben, was unsere Verzweiflung ausmacht und wie sich unsere Schmer- zen anfühlen. Darum versteht er, wovon wir in unseren Gebeten spre- chen, was unsere Tränen bedeuten und wo wir gelähmt sind vor Angst und Unsicherheit. Doch Jesus weicht nicht zurück, sondern geht mit uns mit, hält mit uns die Schmerzen aus, sammelt unsere Tränen auf und ist bei uns – manchmal in einer Umarmung zur rechten Zeit, einem Lächeln ohne Hintergedanken oder einem guten Wort ohne lange Erklärungen und Bitten.

Ja, Weihnachten ist die Zeit großer Erwartungen, aber auch der Hoffnung, dass sich bewahrheitet, was uns angekündigt wird und was in Jesus Christus seinem Leben und Wirken Gestalt angenommen hat: Nämlich Frieden, Gutes und Heil.

Amen.