Lukas 6,36 38
36 Seid barmherzig, wie auch euer
Vater barmherzig ist. 37 Und richtet nicht, so werdet ihr
auch nicht gerichtet. Verdammt nicht, so werdet ihr nicht
verdammt. Vergebt, so wird euch vergeben. 38 Gebt, so wird
euch gegeben. Ein volles, gedrücktes, gerütteltes und
überfließendes Maß wird man in euren Schoß geben; denn eben
mit dem Maß, mit dem ihr messt, wird man euch zumessen.
Liebe Schwestern und Brüder,
1. Gottes Barmherzigkeit
seid barmherzig, wie euer Vater
barmherzig ist!
Der heutigen Predigttext ist an manchen
Stellen nicht einfach zu verstehen, seine Botschaft ist hingegen
klar. Sie lautet: Barmherzigkeit.
Um ihn zu verstehen, folgen wir dem
Predigttext einmal Stück für Stück. Zu Beginn stellt er klar,
wer Gott ist. Gott ist kein Gott, der seine Feinde haßt. Kein
Gott, der Auge um Auge, Zahn um Zahn aufrechnet. Kein Gott, mit
dessen Namen man Kriege rechtfertigen könnte.
Gott ist der Vater Jesu. Er ist zugleich
auch unser Vater. Kein harter und strenger Vater. Vielmehr: Gott
ist ein barmherziger Vater.
Wie barmherzig dieser Vater ist,
schildert Lukas an anderer Stelle, im Gleichnis vom verlorenen
Sohn: Ein Sohn läßt sich vorzeitig sein Erbe auszahlen und lebt
zügellos und anrüchig, bis er alles verpraßt hat. Hungrig.
Geschunden. Reuig kehrt er zu seinem Vater zurück. Der Vater
sieht ihn von weitem kommen. Da hat er Mitleid mit ihm. Wörtlich
steht im griechischen Original: Er wurde in den Eingeweiden
berührt. Das meint: Das Leid seines Sohnes ging dem Vater
durch Mark und Bein. Daher läuft er ihm entgegen, fällt ihn um
den Hals, küßt ihn und nimmt ihn wieder als Sohn auf.
Der Vater im Gleichnis, er liebt. Er
liebt mit jeder Faser, mit jeder Pore seines Körpers. Er sieht
dem Sohn daher nach, daß er das Erbe verschleudert hat. Selbst
den anstößigen Lebenswandel des Sohnes verzeiht er ohne
Aufhebens. Da er bis in die Mitte seines Herzens liebt, ist er
barmherzig.
Wie ein solcher Vater ist Gott, meint der
Evangelist Lukas in unserem heutigen Predigttext. Unser Leid geht
ihm durch Mark und Bein. Mit Augen der Barmherzigkeit schaut er
uns an.
Da mag heute unter uns jemand sein, die
sich fürchtet morgens aufzustehen, weil die Tagesaufgaben sie zu
erdrücken drohen. Wie soll sie das alles schaffen? Gott schaut
sie mit Augen der Barmherzigkeit an.
Da mag jemand unter uns sein, der gegen
eine Krankheit kämpft. Jeden Tag neu nimmt er seine Kraft und
seinen Mut zusammen. Gott schaut ihn mit Augen des Friedens an.
Da mag jemand ihren Mann pflegen. Viel
Kraft verwendet sie darauf, mit viel Liebe sorgt sie für ihn.
Gott schaut sie mit Augen der Zärtlichkeit an.
Da mag jemand wegen seinem jugendlichen
Sohn weder ein noch aus zu wissen. Alle Bemühungen scheinen
erfolglos zu bleiben. Gott schaut ihn mit Augen der Güte an.
Da mag jemand unter uns sein, die an
Angstattacken oder an tiefer Traurigkeit leidet. Gott schaut sie
mit Augen der Mutterliebe an.
Da mag jemand sein, der sich innerlich
tot fühlt. Er spürt weder Schmerz noch Freude. Gott schaut ihn
mit Augen der Vaterliebe an.
Da mag jemand um einen lieben Menschen
trauern. Vielleicht ist er schon lange tot, aber die Wunde
schließt sich nicht. Ihr Leid geht Gott durch Mark und Bein.
Allen Mühseligen und Beladenen unter uns
gilt die Botschaft: Ihr habt einen liebenden Vater im Himmel.
Eure Plage, euer Leid, es geht ihm durch Mark und Bein. Gott
wendet seinen barmherzigen Blick auf Euch und sieht Euer Leid. Er
will Euch Kraft und Lebensmut geben.
2. Die Barmherzigkeit der Menschen
Seid barmherzig, wie euer Vater
barmherzig ist!
Richtet nicht, und ihr werdet nicht
gerichtet. Verurteilt nicht, und ihr werdet nicht verurteilt.
Lasst frei, und ihr werdet freigelassen! Gebt, und euch wird auch
gegeben werden: ein gutes, festgedrücktes, gerütteltes und
übervolles Maß wird man euch in den Schoss schütten. Denn mit
dem Maß, mit dem ihr messt, wird auch euch gemessen werden.
Gott ist ein barmherziger Vater. Wir
können ihn nachahmen. Wir sollen ihn nachahmen. Das ist die
Grundaussage des Predigttextes.
Was heißt es aber konkret, barmherzig zu
sein, wie Gott es ist? Der Text nennt einige Beispiele: Man soll
nicht verurteilen, nicht richten. Barmherzig soll man zu den
Armen sein. Großzügig soll man geben. Lukas denkt sich das so:
Gott ist der Geber aller Gaben. Die irdischen Güter sind nur
Leihgabe. Am Ende wird man Rechenschaft ablegen müssen, wie man
mit den irdischen Gütern umgegangen ist. Wer freigiebig war, der
wird von Gott mit einem gerüttelten, übervollen Maß belohnt
werden. So heißt es im Text. Was ist damit gemeint?
Es handelt sich um ein Bild aus der
damaligen Kaufmannswelt. Ein Kunde verstaute das gekaufte Korn in
den Falten seines Kleides. Der Händler nun ist so großzügig,
daß er das Korn zuerst in das Meßgerät füllt, schüttelt und
schließlich über den Rand fließen läßt. So wie dieser
Händler ist Gott, meint Lukas. Er rechnet nicht alles penibel
auf. Er ist ein barmherziger Vater, der keine peinlich genaue
Vergeltung üben wird. Wie der Vater dem verlorenen Sohn verzeiht,
so wird der himmlische Vater seine unberechenbare Güte
erstrahlen lassen.
Heißt das, man kann die Hände in den
Schoß legen, denn Gottes Barmherzigkeit wird es schon richten?
Keinesfalls. Um diesem Mißverständnis zu begegnen, schildert
der Text detailliert, was man tun soll: Gebt mit vollen Händen.
Lasst frei, und ihr werdet freigelassen! So übersetzt Luther.
Man kann auch übersetzen: Lasst Schulden nach, dann wird Gott
euch vergeben. Gedacht ist an das alttestamentliche Jubeljahr.
Alle 50 Jahre soll nach dem 3. Buch Mose ein Jubeljahr gefeiert
werden. Im Jubeljahr soll das Land neu verteilt werden: Alle
Schulden sollen erlassen werden. Die Schuldsklaven werden frei
gelassen (3. Mose 25,10ff.).
Jesus selbst fasst seine Sendung im
Lukasevangelium zusammen mit den Worten: Ich bin gekommen, um den
Armen eine frohe Botschaft zu bringen, die Zerschlagenen in
Freiheit zu setzen und ein Jubeljahr auszurufen (Lk 4,18f.). ,Lasst
frei, und ihr werdet freigelassen ist daher ökonomisch zu
verstehen. Der Predigttext möchte, daß man sich um die Armen
kümmert. Großzügig soll man ihnen geben. Schulden soll man
erlassen.
Im Jahr 2000 gab es eine große
kirchliche Kampagne mit dem Ziel, die Schulden der armen Länder
zu streichen. 8 Millionen Unterschriften wurden damals auf der
ganzen Welt gesammelt. Die Politiker versprachen einen großen
Schuldenerlaß. Viel ist aus diesen Versprechen bisher nicht
geworden. Nur die aller ärmsten Länder bekamen die Schulden
erlassen, und meist nur teilweise.
Gott sagt uns, wie es geht: Macht es doch
wie ich, dann kann Leben gelingen. Seid barmherzig, wie auch ich
barmherzig bin.
Und im Psalm 4 steht der Monatspruch für
diesen Januar: Ich finde, er verbindet den Text der Jahreslosung
sehr gut mit unseren Wünschen:
Viele sagen: Wer wird uns Gutes sehen
lassen? Herr, lass leuchten über uns das Licht deines Antlitzes!
Seid barmherzig, wie euer Vater
barmherzig ist! Und lasst euch anleuchten von Gottes Licht.
So wird es ein gutes Jahr werden.
Amen.